Strengere Anforderungen an Schätzungsmethoden bei Kassenmängeln
Die Entscheidung betrifft einen Gastronomiebetrieb und stellt klar, dass Finanzämter bei der Wahl ihrer Schätzungsmethode nicht vollkommen frei sind, sondern bestimmte Rangfolgen beachten müssen.
Der Sachverhalt
Ein Gastronomiebetreiber nutzte in den Jahren 2011 bis 2013 eine EDV-Kasse, die von seinem Vorgänger übernommen worden war. Diese Kasse wies erhebliche formelle Mängel auf: Die als „Tagesabschlüsse“ bezeichneten Belege waren nicht fortlaufend nummeriert, Stornobuchungen wurden nicht ausgewiesen, und es fehlten Angaben zur Zahlungsweise sowie zur Uhrzeit der Erstellung. Zudem konnte der Betreiber keine Bedienungsanleitung für die Kasse vorlegen, und es wurden keine Inventuren durchgeführt.
Bei einer Betriebsprüfung für die Jahre 2011 bis 2013 nahm das Finanzamt Hinzuschätzungen vor. Die Prüferin verzichtete auf eine betriebsinterne Kalkulation und stützte sich stattdessen auf die amtliche Richtsatzsammlung des Bundesfinanzministeriums. Dabei wendete sie den untersten Rohgewinnaufschlagsatz von 186% an und reduzierte das Ergebnis zusätzlich um einen pauschalen „Sicherheitsabschlag“ von 30%. Dies führte zu Umsatzerhöhungen zwischen etwa 10 und 16%.
Die Klage gegen die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen war im ersten Rechtsgang erfolglos. Das Finanzgericht sah die Voraussetzungen für eine Schätzung gem. § 162 AO als erfüllt an. Es verwarf jedoch die Aufschlagkalkulation des Finanzamts und nahm selbst eine Schätzung vor, indem es die Umsatzerlöse des Klägers auf der Grundlage einer ermittelten Größe „erzielbare Tageserlöse“ durch „pauschale Sicherheitszuschläge“ erhöhte. Da die eigene Schätzung des Finanzgerichts zu höheren Hinzuschätzungsbeträgen führte, bestätigte das Finanzgericht die Hinzuschätzung des Finanzamts auch der Höhe nach.
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger hin hob der erkennende Senat des BFH das Urteil auf und verwies die Sache an das Finanzgericht zurück.
Das Finanzgericht bestätigte im zweiten Rechtsgang im Wesentlichen seine Entscheidung aus dem ersten Rechtsgang und folgte in Bezug auf die Schätzungsmethode und die Hinzuschätzungshöhe dem Finanzamt. Dieses habe bei seiner Schätzung ausdrücklich nicht den ansonsten üblichen mittleren Rohgewinnaufschlagsatz, sondern den untersten Rohgewinnaufschlagsatz angewendet.
Die Entscheidung des BFH
Der BFH bestätigte zwar grundsätzlich die Schätzungsbefugnis des Finanzamts aufgrund der formellen Kassenmängel. Die konkrete Schätzungsmethode und deren Begründung wurden jedoch als unzureichend beanstandet. Das Gericht hob die Urteile der Vorinstanz auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung zurück.
Der BFH kritisierte mehrere Aspekte der vorgenommenen Schätzung. Zunächst stellte das Gericht fest, dass die Kombination aus Richtsatzschätzung und pauschalem Abschlag von 30% faktisch keine echte Richtsatzschätzung mehr darstellt, sondern eine griffweise Schätzung. Diese lag deutlich außerhalb der vom Bundesfinanzministerium ausgewiesenen Richtsatzspanne.
Das Finanzgericht habe die Höhe des Sicherheitsabschlags von 30% auch nicht ausreichend begründet. Es blieb unklar, warum nicht ein geringerer oder höherer Prozentsatz angesetzt wurde. Diese fehlende Begründung mache es unmöglich nachzuvollziehen, wie das Gericht zu seiner Überzeugung gelangt sei.
Der BFH monierte zudem, dass eine betriebsinterne Nachkalkulation nicht mit tragfähigen Erwägungen ausgeschlossen worden sei. Das Finanzgericht habe argumentiert, dass aufgrund von Unwägbarkeiten bei Portionsgrößen, Abfallquoten und Personalverköstigung eine Nachkalkulation nicht möglich sei. Der BFH hielt diese Begründung für nicht überzeugend. Solche betrieblichen Besonderheiten könnten durch den Ansatz entsprechend angepasster Werte in einer Aufschlagkalkulation berücksichtigt werden.
Selbst wenn eine Nachkalkulation aufgrund fehlender Einzeldaten für die Streitjahre nicht möglich sein sollte, wäre nach Ansicht des BFH zu prüfen gewesen, ob Daten aus Folgejahren herangezogen und auf die Streitjahre übertragen werden könnten. Dies wäre jedenfalls eher geeignet, den betrieblichen Gegebenheiten nahezukommen, als ein pauschal gegriffener Sicherheitszuschlag.
Ergänzend und nicht tragend für die Entscheidung wies der BFH darauf hin, dass erhebliche Zweifel an der Eignung der Richtsatzsammlung in ihrer bisherigen Form als Grundlage für eine Schätzung bestehen. Das Gericht verwies dabei auf seinen Beschluss vom 14.12.2022 sowie ein weiteres Urteil vom 18.06.2025. Diese Hinweise deuten darauf hin, dass die jahrzehntelange Praxis der Richtsatzschätzung möglicherweise grundsätzlich in Frage gestellt werden könnte.
Hinweise für die Neuverhandlung
Für die Neuverhandlung vor dem Finanzgericht gab der BFH wichtige Hinweise. Sollte tatsächlich weder eine Nachkalkulation noch ein innerer Betriebsvergleich auf Basis von Folgejahren möglich sein, bliebe nur eine griffweise Schätzung in Form eines Sicherheitszuschlags zu den erklärten Betriebsergebnissen.
Bei der Bemessung eines solchen Zuschlags müssten verschiedene Faktoren berücksichtigt werden. Dazu gehöre, dass keine belastbaren Anhaltspunkte für konkrete materielle Mängel bei der Einnahmenerfassung festgestellt wurden. Auch die Tatsache, dass der Betreiber Ende 2016 eine manipulationssichere Kasse anschaffte, die keine höheren Umsätze zeigte, wäre zu würdigen. Schließlich spreche der Umstand, dass der weitere Gewerbebetrieb des Steuerpflichtigen bisher ohne Beanstandungen geblieben sei, gegen allzu hohe Hinzuschätzungsbeträge.
Praktische Bedeutung
Das Urteil stärkt die Position von Steuerpflichtigen, deren Buchführung formelle Mängel aufweist. Es macht deutlich, dass Finanzämter nicht einfach zu pauschalen Richtsatzschätzungen greifen dürfen, sondern zunächst prüfen müssen, ob eine genauere, betriebsindividuelle Methode zur Verfügung steht. Die Begründungspflicht für Schätzungen wird verschärft, was die Nachprüfbarkeit und Transparenz erhöht.
Für Gastronomiebetriebe und andere bargeldintensive Unternehmen bedeutet dies, dass sie sich gegen überhöhte Hinzuschätzungen besser wehren können, wenn sie nachweisen, dass eine betriebsinterne Kalkulation möglich und genauer wäre. Gleichzeitig unterstreicht das Urteil aber auch, wie wichtig die ordnungsgemäße Kassenführung ist. Formelle Mängel wie der fehlende Ausweis von Stornierungen berechtigen weiterhin zur Schätzung und können nicht mehr nachträglich geheilt werden.
Hinweis: Die Entscheidung macht deutlich, dass Finanzämter und Finanzgerichte ihre Schätzungsmethode sorgfältig wählen und überzeugend begründen müssen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Ziel, der wirtschaftlichen Wirklichkeit möglichst nahezukommen, stehen im Vordergrund. Dies dient letztlich einer gerechteren und präziseren Besteuerung.
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