Entkräftung der Bekanntgabevermutung bei strukturellem Zustellungsdefizit
Im Steuerrecht gilt nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO die sogenannte Bekanntgabevermutung. Sie besagt, dass ein per einfachem Brief versandter Verwaltungsakt – etwa ein Steuerbescheid oder eine Einspruchsentscheidung – grundsätzlich am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als zugegangen gilt. Diese gesetzliche Fiktion dient der Rechtssicherheit und soll typische Postlaufzeiten abbilden. Sie ist jedoch keine unwiderlegliche Annahme: Wenn konkrete Umstände gegen einen Zugang innerhalb dieses Zeitraums sprechen, kann die Vermutung erschüttert werden.
Hintergrund des Falles
Der Einspruch des Klägers wurde durch das Finanzamt mit einer Einspruchsentscheidung am 28.01.2022 (einem Freitag) zurückgewiesen. Der vom Finanzamt eingesetzte Postdienstleister stellt an der Kanzleianschrift des Bevollmächtigten nur dienstags bis freitags Post zu. Samstags fand keine Zustellung statt. Im Zusammenhang mit der beim Gericht eingereichten Klageschrift, die bei Gericht am 03.03.2022 einging, gab der Kläger an, dass die Einspruchsentscheidung am 03.02.2022 (einem Donnerstag) bei seinem Bevollmächtigten zugegangen sei.
Das Finanzgericht Münster wies die Klage zunächst als unzulässig ab, da es zweifelte, ob die Klagefrist eingehalten war. Der Kläger machte geltend, dass aufgrund der eingeschränkten Zustelltage keine ordnungsgemäße Bekanntgabe stattgefunden habe.
Was hat der BFH entschieden?
Der BFH hob das Urteil des Finanzgerichts auf und verwies den Fall zur erneuten Verhandlung zurück. Er stellte klar, dass die Drei-Tage-Frist nur dann anwendbar ist, wenn unter regulären Bedingungen mit einer Zustellung innerhalb dieses Zeitraums gerechnet werden kann.
Bestreitet der Steuerpflichtige nicht den Zugang des Schriftstücks an sich, sondern lediglich, es innerhalb der Dreitagesfrist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO erhalten zu haben, muss er sein Vorbringen nach der ständigen Rechtsprechung des BFH substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen.
Er muss Tatsachen vortragen, die den Schluss zulassen, dass ein anderer Geschehensablauf als der typische – Zugang binnen dreier Tage nach Aufgabe zur Post – ernstlich in Betracht zu ziehen ist.
Wenn jedoch – wie hier – an zwei aufeinanderfolgenden Tagen keine Zustellung erfolge, liege ein strukturelles Zustellungsdefizit vor, das geeignet ist, die Bekanntgabevermutung zu erschüttern. Im vorliegenden Fall lasse sich nicht ausschließen, dass die am Freitag vom Finanzamt zur Post gegebene Einspruchsentscheidung erst an einem späteren Tag als am darauffolgenden Montag dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zuging. Samstag und Sonntag seien im Gewerbegebiet zustellfreie Tage und auch der Montag, der letzte Tag der Frist, war kein regulärer Zustelltag. Vielmehr wurde am Montag, dem letzten Tag der Dreitagesfrist, lediglich die „Samstagspost” und damit die Post des ersten auf den Einlieferungstag (Freitag) folgenden Werktags nachgeliefert.
Die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz reichen allerdings nicht aus, um die Begründetheit der Klage abschließend zu beurteilen. Das Finanzgericht muss daher erneut prüfen, wie die tatsächlichen Zustellabläufe waren und ob die Klage überhaupt als verspätet gelten kann.
Hinweis: Das Urteil hat erhebliche praktische Relevanz. Es zeigt, dass die Bekanntgabevermutung keine starre Größe ist, sondern von tatsächlichen Abläufen abhängt. Bei privaten Postdienstleistern mit untypischen Zustellmustern kann ein strukturelles Zustellungsdefizit dazu führen, dass Fristen doch gewahrt wurden. Finanzgerichte müssen künftig genauer prüfen, ob die Voraussetzungen der Bekanntgabevermutung tatsächlich erfüllt sind.
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